Netanjahu wird ein Erfolg nicht mehr zugetraut

Erschien in Watson am 03.09.2024

In knapp einem Monat jährt sich der brutale Hamas-Angriff auf Israel. Bei dem Großangriff auf zahlreiche Orte im Süden Israels töteten die Terroristen nach israelischen Angaben 1205 Menschen und verschleppten 251 als Geiseln in den Gazastreifen.

Bis heute befinden sich nach jüngsten israelischen Angaben noch immer 97 Geiseln in der Gewalt der Hamas und anderer militanter Palästinensergruppen, 33 von ihnen sind demnach tot.

Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Protesten in Israel gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Die Kritik: Er würde nicht genügend für die Freilassung der Geiseln unternehmen.

Als Reaktion auf den Hamas-Angriff geht Israel massiv militärisch im Gazastreifen vor. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, wurden dabei seit Oktober mehr als 40.700 Menschen getötet.

Der Druck auf Israels Regierungschef Netanjahu wächst im In- und Ausland, ein Abkommen über eine Waffenruhe im Gazastreifen und die Freilassung aller übrigen Geiseln zu erzielen.

Der Fund von sechs getöteten Geiseln am Samstag gießt nun weiter Öl ins Feuer und könnte für Netanjahu ernsthafte Konsequenzen haben.

Gaza: Tod von Hamas-Geiseln löst Großdemos in Israel aus

Die sechs nun betrauerten Geiseln waren in einem Tunnel bei Rafah im Süden des Gazastreifens gefunden worden. Laut israelischem Gesundheitsministerium haben Hamas-Terroristen die vier Männer und zwei Frauen mit mehreren aus nächster Nähe abgefeuerten Schüssen ermordet.

Wutentbrannt über diese Nachricht strömten die Menschen in Israel auf die Straße. Laut Medienberichten sind es die größten Massendemos seit dem 7. Oktober gewesen. Der Gewerkschafts-Dachverband Histadrut rief zu einem Generalstreik ab Montagfrüh auf, bei dem Mitarbeiter:innen von Verwaltung, Krankenhäusern und Verkehrsbetrieben im ganzen Land ihre Arbeit niederlegen.

Die Hamas-Geiseln dürften nicht länger "im Stich gelassen" werden, hatte Histadrut-Chef Arnon Bar David vorab erklärt. Netanjahu bat am Montagabend um "Vergebung".

Proteste wegen toter Geiseln: Netanjahu bittet um Vergebung

"Ich bitte Sie um Vergebung, sie nicht lebend zurückgebracht zu haben", sagt Israels Regierungschef bei einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz. "Wir waren nah dran, aber es ist uns nicht gelungen." Netanjahu drohte zugleich mit Vergeltung. "Die Hamas wird einen hohen Preis dafür zahlen." Doch die Menschen in Israel wollen wohl etwas anderes, das zeigen zumindest die Massendemos.

"Diese Proteste der israelischen Bevölkerung sind nicht nur eine moralische Empörung über den gewaltsamen Tod der Geiseln, sondern sie sind vor allem gegen die Unfähigkeit der israelischen Regierung gerichtet, die Geiseln zu befreien", sagt Politikwissenschaftlers Heinz Gärtner auf watson-Anfrage.

"Premierminister Netanyahu wird ein Erfolg nicht mehr zugetraut."

Politikwissenschaftler Heinz Gärtner

Er ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien tätig.

Menschen in Israel zweifeln an Netanjahu

Ihm zufolge glaubten die israelischen Bürger:innen das Narrativ der Regierung sehr lange, dass der Krieg gegen die Hamas und ihre Vernichtung die beste Methode wäre, um die Geiseln vom 7. Oktober 2023 zu befreien. Doch: "Mit dem Andauern des Krieges wurde klar, dass eine Befreiung der Gefangen mit Gewalt nicht gelingt", sagt Gärtner.

Am Ende seien die meisten Geiseln durch Verhandlungen freigekommen. Die Proteste sind laut Gärtner sowohl gegen das politische Unvermögen der Regierung als auch gegen deren Glaubwürdigkeit gerichtet. "Premierminister Netanyahu wird ein Erfolg nicht mehr zugetraut", meint der Politikwissenschaftler.

Die Demonstrierenden fordern laut ihm zwar einen Waffenstillstand im Austausch gegen die Freilassung der Gefangenen, nicht aber ein Ende des Krieges und der israelischen Kontrolle des Gazastreifens. Genau das aber wolle die Hamas.

Israel müsse über das Gebiet an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten die Kontrolle behalten, sagte Netanjahu in der Pressekonferenz. Dadurch werde sichergestellt, dass die verbliebenen Geiseln "nicht aus dem Gazastreifen herausgeschmuggelt werden".

Israels Rückzug aus dem sogenannten Philadelphi-Korridor gehört zu den zentralen Streitpunkten bei den Verhandlungen, die nicht nur eine Waffenruhe in dem Palästinensergebiet, sondern auch die Freilassung aller verbliebenen aus Israel in den Gazastreifen verschleppten Geiseln zum Ziel haben.

Die USA dringen gemeinsam mit den anderen beiden Vermittlern Ägypten und Katar seit Monaten auf ein solches Abkommen.

Aber: "Die Priorität des Premierministers lautet weiterhin, den Krieg bis zu einem unklaren Ende zu führen und nicht die Befreiung der Geiseln", meint Gärtner. Denn von einer Fortführung des Krieges hänge auch das politische Überlebens Netanjahus und seiner Regierung ab.

Laut des Experten ermöglicht nur eine Umkehrung der Prioritäten eine Perspektive für die Beendigung der Geiselhaft, "was aber auch das politische Ende Netanjahus bringen würde".


Heinz Gärtner unterrichtet an der Universitäten Wien. Er war Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Er leitet den Beirat des International Institute for Peace (IIP). Er hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren unter anderem an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Unter anderem ist er Herausgeber des Buches "Engaged Neutrality" (Lexington).